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Fragmente

Fragmente

Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 09. Januar 1909, notiert der Maler Max Beckmann in sein Tagebuch:

„Mein Herz schlägt nach einer rohen, gewöhnlicheren, vulgäreren Kunst, die nicht verträumte Märchenstimmungen lebt zwischen Poesien, sondern dem Furchtbaren, Gemeinen, Großartigen, Gewöhnlichen, Grotesk-banalen im Leben direkten Eingang gewährt. Eine Kunst die uns im Realsten des Lebens immer unmittelbar gegenwärtig sein kann.“ (*1)

In Katharina Schellenbergers Werken begegnet uns die unmittelbare Gegenwärtigkeit, das grausame, furchtbare, gemeine aber auch großartige, poetische und märchenhafte unseres Unterbewusstseins. Sie evozieren jenes Konglomerat an disparaten Bildern, welches in unseren Köpfen entsteht, wenn wir unsere gesehenen und erlebten Tageseindrücke mit dem vermischen, was täglich auf uns an visuellen und auditiven Informationen einstürmt. Glücklicherweise sickert dieses im Gehirn gespeicherte Chaos nur selektiv in unser Bewusstsein. Katharina Schellenberger gewährt wie Max Beckmann Eingang in das Grotesk-Banale unseres Lebens. Märchenfiguren, Spielzeugtiere und geisterhafte Gestalten bevölkern die fantastische Welt ihrer Bilder. Ihre Malerei oszilliert zwischen Figuration und Gegenständlichkeit, zwischen intuitiver und kognitiver Wahrnehmung. Die Werke tragen keine Titel, weil die Künstlerin den Betrachter nicht einengen, sondern ermutigen möchte, sich mithilfe ihrer Kunst Zugang zur Vielfältigkeit der eigenen Imagination zu eröffnen. In ihren Gemälden verbindet sich ihr künstlerisches Interesse mit medizinischem Fachwissen. Diese Interessensverknüpfung vermeintlich getrennter Bereiche hat auch wichtige berufliche Entscheidungen Katharina Schellenbergers beeinflusst. Inhaltlich setzt sie sich im weitesten Sinne mit den Ausprägungen von Transzendenz auseinander. Es geht sinnbildlich um das Eintauchen und Wachsen in geistigen Welten, um die Übergänge von Lebensabschnitten oder zwischen innerer und äußerer Welt, um Abschied und Loslassen aber auch um das Gehaltenwerden und die Weitergabe der eigenen Energien an andere. Wie in den Jahren zuvor spielte auch 2017 das elementare Verhältnis zwischen dem Menschen und Wasser eine wichtige Rolle. Indirekt beschäftigte sie sich auf diese Weise mit der Flüchtlingskrise, seit zwei Jahren beherrschendes Thema der Medien und politischen Diskussion. Dabei nimmt das Aufgreifen von konkretem Zeitgeschehen bei Katharina Schellenberger vordergründig keinen Raum ein. Sie bezieht niemals direkt Stellung. Der Schriftsteller Stephan Lackner fragte sich 1933 angesichts des Zeitgeschehens wie Beckmann die „beißend ironische Kritik“ vergessen könne, um den „Ursymbolen nachzusinnen“ und erkannte, dass Beckmanns Kunst tatsächlich das Wesentliche des Menschen zu charakterisieren sucht, ohne sich an der oberflächlichen Symptomatik des Zeitgeschehens aufzuhalten. Katharina Schellenberger widmet sich ebenso wie Beckmann dem Menschlichen in all seinen psychischen und physischen Ausprägungen. Sie lässt um ihre zentralen Figuren und schwebenden Köpfe Farben und Formen fließen. So entstehen abstrakt gegenständlich ineinander verwobene Wesen, die in eigenen komplexen Universen agieren. Ihre Maltechnik ist ebenfalls von einer vielschichtigen Vorgehensweise geprägt. Sie arbeitet zunächst frei, lässt die Farbe verlaufen, gestaltet aus zufällig entstandenen Flecken Wesen und Landschaften. Die hauptsächlich von ihr verwendeten Bildträger Leinwand und Papier benetzt sie mit den verschiedensten Binde- und Lösungsmitteln, benutzt sie sowohl als Grundierung als auch -gemeinsam mit Wasser- zum Wegwaschen bereits vorhandener Malerei. Es kommt vor, dass sie Ihre Gemälde geradezu überschwemmt. Sie setzt Pigmentträger ein, die miteinander konkurrieren und sich gegenseitig behindern. Sie trägt gleichzeitig Pigmente, Öl und Acrylfarben sowie Öl- und Pastellkreiden auf und markiert häufig einzelne Areale mit Klebestreifen, die wahlweise übermalt oder wieder abgezogen werden. Sie liebt ihre alte italienische Telefonkarte, mit der sie großflächig feine Strukturen in die Oberfläche spachteln kann. Ihre Arbeitsweise ist ein ständiges Hinzufügen und Wegnehmen, Werden und Vergehen, aber stets bleiben Spuren sichtbar. Nichts wird komplett eliminiert oder übermalt. Sie erschafft auch in technischer Hinsicht komplexe Bildwelten. Wer so viel experimentiert braucht Erfahrung und den Mut, einiges dem Zufall überlassen zu können.

Der Katalogtitel „Fragmente“ greift die Komplexität der Inhalte und Strukturen ihrer Werke auf. Ins Deutsche übertragen bedeutet er „Bruchstücke“. Die Arbeiten Katharina Schellenbergers entstehen ebenfalls „bruchstückhaft“. Ihre Motivauswahl beruht auf sehr unterschiedlichen Quellen. Sie entwickelt ihre Figuren sowohl frei, aus dem sich von der Hintergrundbearbeitung ergebenen Farbauftrag als auch in einer im Voraus geplanten Konstellation. Manchmal bezieht sie sich auf frühere von ihr geschaffene einzelne Motive und Inhalte (S.20 und 22), variiert diese oder integriert sie als Versatzstücke in ihren neuen Arbeiten (S.71). Seltener baut sie ältere Gemäldefragmente und Fotos als Collage (S. 37) ein oder lässt sich indirekt von der Kunstgeschichte inspirieren. Häufig entwickelt sie einzelne Formelemente prozesshaft weiter, wie zum Beispiel die fleischfarbenen teilweise achterbahnartigen Farbschwünge. Der aufmerksame Betrachter wird im vorliegenden Katalog einige Korrespondenzen zwischen den Bildern des Hauptteils und den Skizzen im zweiten Abschnitt erkennen. Ausgangspunkt ihrer Kunst kann ein persönliches Erlebnis, eine Pressemitteilung, ein Tagesereignis, ein Film oder auch ein Traum sein. Akribisch notiert sie alles Relevante in kurzen Abrissen in ihren Tagebüchern.  Die Einträge helfen ihr auch, zuweilen ganz simple, im Allgemeinen unbeachtet vorüberziehende Alltagssituationen, welche ebenfalls in ihr Werk einfließen können, wie beispielsweise das Aufräumen von herumliegenden Gegenständen, im Bild nachzuvollziehen. Ihre systematische Vorgehensweise gewährleistet eine deutlichere Wahrnehmung der Lebensrealität. Alle Formate werden aus diesem Grund ausnahmslos in einem Arbeitsablauf, meist innerhalb eines Tages erschaffen.

Ein Beispiel ist das Eingangsbild dieses Katalogs „Nr. 231“:

Als erstes nimmt man vermutlich im rechten oberen Bilddrittel einen grünen tierartigen Kopf wahr: Ein Dinosaurier, ein Krokodil, ein Monster? Links hinter dem Monsterkopf ragt ein Babygesicht heraus. Beide sind von einer schwarzen Fläche umfangen, die sich wie ein Fleck über das ganze Gemälde bis in das untere Bilddrittel erstreckt. Unterhalb der Köpfe scheinen sich wurm- oder skelettartige Formen zu bilden, aus deren Formenkonglomerat sich ein gelblich grüner Arm und weiter oben eine rosa Faust herausschält. Eingeschrieben zwischen dem grünen Monsterkopf und dem wurmartigen, geisterhaften Gebilde und doch stark durch die schwarzen Kohlestriche auf weißem Farbgrund abgesetzt, befindet sich die Zeichnung eines Kindergesichtes. Es besitzt im Gegensatz zu den anderen Gestalten portraithafte Züge, obwohl die Augen geschlossen sind. Das Monster schwebt wie eine Bedrohung oder Gefahr über dem schlafenden Kinderkopf. Auf den zweiten Blick könnten alle farbigen Gebilde des Bildes auch „Kopfgeburten“ des träumenden Kindes sein. Es scheint die Formen und Figuren selbst erschaffen zu haben. Sie sind untrennbar mit ihm verbunden oder vielleicht sogar Teile seines Unterbewusstseins. Zeigt dieses Bild die Entwicklung eines Menschen, angefangen vom „tierischen“, embryonalen Status über das Babyalter und die unbewusst agierende aber umso fantasiebegabtere Kindheit hinweg zum bewussten Handeln eines Erwachsenen? Die heraus gereckte Faust könnte in ihrem aktionsgeladenen Impetus als Symbol für die Pubertät stehen. Die ruhende Hand und der lange Arm hingegen andeuten, dass man mit Geduld diese Entwicklung abwarten muss bzw. auf ein überlegtes nicht mehr so stark emotionsgesteuertes Handeln hinweisen. Erwachsen wird man von selbst, nur wie sich das Erwachsenwerden gestaltet, hängt von der Persönlichkeit ab; wie weit man in Geborgenheit aufwachsen konnte, welche Schicksalsschläge einen beeinflussen und herausfordern, wie man dieses Schicksal selbst zu gestalten vermag, kurz, welche Voraussetzungen man hat und welche Entscheidungen man trifft. Die Papierarbeit malte Katharina Schellenberger während einer Krankheitsphase ihres Kindes. Erst die oben erwähnten Tagebuchaufzeichnungen ermöglichten ihr, den Zusammenhang zwischen Erlebnis und Bildschöpfung herzustellen.

Letztendlich verarbeitet Katharina Schellenberger Wahrnehmungseinheiten in Ihren Bildern, die uns allen in ähnlicher Form begegnen. Da die Vielzahl unserer Eindrücke sich im Unterbewusstsein nur bruchstückhaft festsetzen kann und oftmals gar nicht explizit wahrgenommen werden, erzeugen sie inkohärente Vorstellungen, die wir im Gehirn zu einem homogenen Ganzen verschmelzen. Unsere persönliche Sichtweise wird im Anschluss als Realität abgespeichert. Im Normalfall bleiben sie in irgendeinem Hirnareal unbemerkt liegen, bestenfalls verarbeiten wir sie in unseren Träumen. Im schlimmsten Fall traumatisieren sie uns und machen uns krank. So ist die Zusammensetzung der einzelnen Bildelemente Katharina Schellenbergers ebenfalls „fragmentiert“. Die subjektive Zusammensetzung unserer „Realitäts-Wahr-Nehmung“ spiegelt sich sowohl im Inhalt als auch im Aufbau ihrer Bilder.

Das zweite Wortelement des Katalogtitels ist kursiv geschrieben. Trennt man nämlich den Begriff „Frag – mente“ in das deutsche Wort „Frag“ und das italienische „mente“ („Geist“) kann man den Titel auch folgendermaßen auslegen: Katharina Schellenberger möchte in ihren Bildern keine unlösbaren Rätsel aufwerfen. Der Betrachter sollte sich nicht nur Fragen über die Intention der Künstlerin stellen, sondern sich von den Werken „mental“ anregen lassen. „Frag-mente“ bedeutet also auch, seinen eigenen Geist zu befragen. Es geht nämlich nicht um ein reines Erkennen und Deuten der Bildgegenstände, also um die Zusammensetzung des Bildganzen aus den „Bruchstücken“, sondern um die grundsätzliche Wahrnehmung menschlichen Seins und um die Befragung der Eigenwahrnehmung und damit den spielerischen Zugang zum eigenen Unterbewusstsein. Letztendlich umschreibt der Begriff den bestechenden Eindruck, den die Werke Schellenbergers hinterlassen: Sie erscheinen „fragmentiert“, unfertig, im Werden begriffen und entwickeln -während man sie schauend zu verarbeiten sucht- eine sich steigernde Dynamik, einen steten Strudel von Eindrücken. In ihren Gemälden gibt es deshalb auch selten eine eindeutige Ausrichtung. Viele ihrer Arbeiten lassen sich drehen und sind aus verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmbar. „Fragmente“ weist ebenfalls darauf hin, dass es sich im vorliegenden Katalog nur um einen Aspekt des Gesamtwerkes der Künstlerin handelt. Er dokumentiert im ersten Teil die letzten zwei Jahre ihres Schaffens und zeigt im zweiten Teil eine Auswahl der unter dem gleichen Titel entstandenen Bildserie von 2012 und 2013. Ein Katalog vermag ein Werk eben nur „bruchstückhaft“ vorzustellen und durch Worte lassen sich Katharina Schellenbergers Bilder nur unzureichend beschreiben, weil sie von vorneherein ergebnisoffen gemalt sind.

Der Maler George Braque schreibt in seinen Aufzeichnungen:

„Il faut se contenter de découvrier et se garder d’expliquer“, „In der Kunst sollte man sich mit dem Entdecken begnügen und vor dem Erklären hüten.“ (*2)

 

 

Urte Ehlers, Kunsthistorikerin

 

 

 

 

 

(*1) Zitat nach Osterwold (Hg.), „Max Beckmann. Traum des Lebens“, Ostfildern 2006, S.119

(*2) Georges Braque: “Le jour et la nuit”, Cahiers 1917-1952

Katalog mit einer Auswahl von Werken von 2016 bis 2018 und der Serie „Fragmente“

Einführung und Texte: Urte Ehlers M.A.

127 Abbildungen, DIN A4, 2018

16,- € incl. Versand

TiefenGrund

Katalogtext Einführung

Innenbilder

 

Wer jemals versucht hat, einen Gedanken von der Wurzel an logisch und folgerichtig auf geradem Weg zum Ziel zu führen, wird festgestellt haben, wie schwierig dieses Unterfangen ist, und dass es der gesamten Konzentration bedarf, störende assoziative Einflüsse, die sich zwangsläufig immer wieder dazwischenschieben, auszuschalten. Lässt man diese jedoch zu oder taucht sogar ganz ein in den Strom der Imagination, öffnet sich eine Welt aus ungeahnten Bildern.

Katharina Schellenberger entwickelt Bildwelten aus scheinbar inkohärenten Erinnerungs- und Erlebnisfragmenten, die eher ungewöhnlich, mitunter verstörend, oft grotesk und nicht leicht zu entschlüsseln sind. So verzichtet sie bewusst auf Titel, um dem Betrachter keine eindeutige Leseart vorzugeben. Ihre Arbeiten sind Tableaus aus Gesichtern, menschlichen Extremitäten, körperhaften Formen und fremdartig abstrakten Elementen, die sich miteinander verbinden, sich überlagern, ja förmlich miteinander verschmelzen. Diese surreal komplexen Körperwelten sind Metapher und Ausdruck seelischer Zustandsbeschreibungen und variieren die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und innerem Sein, die Kluft zwischen Image und Persönlichkeit, das sorgsam verborgene Innenleben und die Brüche und Obsessionen. Der Mensch und seine Psyche bildet das zentrale Thema und zeigt sich in den zahlreichen Facetten seiner fragilen Existenz. Die Malerin, die über Schizophrenieerkrankungen promoviert hat, entwirft ein Bild des Menschen voller Widersprüche.

Auf der Suche nach dem Wahren und Unverfälschten, das tief in jedem Menschen schlummert, begegnet sie kleinen, poetischen, aber oft auch unbequemen Wahrheiten, die sie in vielschichtigen Darstellungen miteinander verwebt. So schafft sie Bilder, in die der Betrachter eintauchen kann und die ihn tief in ihren Bann ziehen.

 

In Komm, Schlafes Bruder (S. 2), das einer früheren Schaffensphase der Künstlerin entstammt, begegnet uns eine schlafende junge Frau. Ihr Kopf ruht entspannt auf einem Kissen, über das sich ein Strom von dunklen Haaren ergießt. Auf dem nackten Oberkörper spielt das Licht und zeichnet ein Camouflagemuster auf die Haut. Sie liegt auf die Seite gedreht, einen Arm ausgestreckt, den anderen über dem Körper angewinkelt und ein Laken so um sich geschlungen, dass es knapp die Brust bedeckt. Das Weiss der Bettwäsche unterstreicht die Plastizität des Körpers und enthebt diesen gleichermaßen der irdischen Schwere. Durch den Faltenwurf des Lakens entsteht eine Struktur, die die Schlafende im Bild zentriert und abgrenzt. Sie befindet sich in ihrer privaten Welt, deren Zutritt dem Betrachter verwehrt bleibt. Sie ist ihm entrückt. Ob und was sie träumt, ist ihr Geheimnis; es bleibt nur das Abbild, der äußere Eindruck. Diese Außensicht erfährt ihre Umsetzung in einer klaren, malerisch realistischen Bildsprache, deren begrenzt farbig tonige Palette mit dem Eindruck der Isolation korrespondiert. Es ist eines der wenigen rein gegenständlichen Werke Schellenbergers, die zunehmend beginnt ihre Figurationen aus malerisch Gestischem zu entwickeln und zu abstrahieren, um das fiktional Visionäre zu veranschaulichen.

Im Gegensatz zu oben erwähnter Darstellung der Schlafenden ist im folgenden Bild der Betrachter unmittelbar angesprochen (Nr. 223, S. 19). Eindringlich trifft ihn der Blick eines Kindes, dessen Alter und Geschlecht nicht eindeutig bestimmbar sind. Sein Kopf ist nach einer Verletzung mit einer breiten, hellen Bandage umwickelt, das kindlich gemusterte Gewand fleckig. Der Ausdruck seiner Gesichtszüge ist rätselhaft. Sind es Erschrecken und Hoffnungslosigkeit, die das Trauma einer abrupt beendeten Kindheit nahelegen, oder eher trotzige Stärke und die Zuversicht in eine, wenn auch ungewisse so doch hoffnungsvollere Zukunft, die uns hier aus diesen großen, blauen Augen entgegensehen? Rote Tropfen auf dem in gelben und grünen, in großflächigen Schlieren angelegten Bildgrund und eine Gruppe von Männern im Hintergrund, deutlich entfernt auf blutrotem Boden, erinnern an vergangene Gräuel. Allerdings zeugen die kräftigen Arme und die großen Hände des Kindes von ungeahnter Stärke und Tatkraft. Dahinter öffnet sich bühnenartig der Raum. Fließend mäandernde Farbfelder suggerieren Tiefe und heben sie im selben Augenblick wieder auf. Am rechten oberen Bildrand wird das Geschehen von einer vertikal verlaufenden blauen Farbfläche begrenzt, deren Struktur von Ferne an einen Vorhang erinnert und dadurch im Sinne des Fiktionalen die Bühnenillusion komplettiert. Die Männer im Hintergrund wirken wie Statisten, sind weit weggerückt und dennoch latent bedrohlich anwesend. Hier wird Welttheater inszeniert: Das Stück trägt den Titel „Leben“ und der Protagonist ist der Mensch. Katharina Schellenberger entwirft ein Szenario, das die figurativ ausgearbeiteten Personagen in einem malerisch abstrahierten Raum agieren lässt und die Grenze zwischen Raum und Zeit aufhebt. Das Geschehen ist nicht mehr verortbar, es ist Fiktion und Realität zugleich. Der junge Mensch ist der Held, offen in die Zukunft blickend, noch formbar, stark und schwach zugleich, Täter und Opfer, verletzend und helfend, schwankend zwischen Hoffnungslosigkeit und Zuversicht.

Es ist das Dasein, das selten geradlinig verläuft. Häufig sind es Brüche und Schicksalsschläge, die eine Richtungsänderung erzwingen. Doch mitunter steht sich der Mensch auch selbst im Weg. Er kann das Bild, das er von sich entworfen hat, nicht ausfüllen. Schein und Wirklichkeit sind nur allzu häufig nicht deckungsgleich.

Mit feinem Spott hat sich Katharina Schellenberger mit dieser nur allzu menschlichen Schwäche im Bild (Nr. 181, S.21) auseinandergesetzt, das im Vordergrund ein prinzessinnenhaftes Wesen mit einem langen lichtblauen Kleid darstellt. Hinterfangen wird es von einer monströsen Froschgestalt. Das Paar entpuppt sich auf den zweiten Blick als untrennbar zusammengehörig und ist, Kopf und Hand legen davon Zeugnis ab, im Zustand metamorphotischer Verwandlung begriffen. Es ist eine ironische Botschaft, die hier transportiert wird, und den Menschen im Kampf zwischen Wunschdenken und Realität zeigt.

Die Künstlerin entlarvt mit scharfem Blick versteckte Schwächen, Unzulänglichkeiten und verborgenes Begehren. Unterschiedlichste Einflüsse, alltägliche Begegnungen, Erlebtes, Literatur und Musik speisen das Bildgedächtnis Schellenbergers, deren Fokus immer um die Ambivalenz und Brüchigkeit des menschlichen Daseins kreist. Aufmerksam beobachtet sie ihre Umwelt und speichert die Eindrücke, bis diese schließlich als Gedächtnisskizzen Ausgangspunkt für neue Bildinhalte werden.

Den ewigen Kreislauf des Lebens spiegelt das Bild (Nr. 167, S.36) wieder. Der Bildraum wird beherrscht von einer Figur mit den idealtypischen Zügen einer archaischen Statue. Über ihre Schulter blickend lauert bereits, als Vorbote des Endzeitlichen, die Personifikation des Todes mit fratzenhaftem Gesicht. Darunter verkörpert die Gestalt einer Larve mit Menschengesicht und Kopfhaube das Entstehen neuen Lebens. Die Figuren wirken durch ihre Umrisslinien flächig. Der Farbauftrag wechselt zwischen pastos und fließend. Dazu hat die Künstlerin anatomische Abbildungen eincollagiert, die den Charakter des Ephemeren und Fragilen des menschlichen Lebens unterstreichen. Das Werk wird hierdurch zu einem Sinnbild der Vergänglichkeit. Es ist das gestalterisch Prozessuale, die experimentelle Arbeit mit unterschiedlichsten Farben und Techniken, die ein anfänglich vages Bildkonzept immer wieder in Frage stellen und die Künstlerin veranlassen, sich in stets verändernde Strukturen neu einzusehen, diese aufzugreifen und zu assoziativen Figurationen und komplexen Bildwelten weiterzuentwickeln. Es sind Innensichten, Seelenwelten, die jenseits des Realen einen Kosmos des Unbewussten heraufbeschwören, wo ähnlich wie im Traum unterschiedlichste Fragmente zusammenströmen.

Gleichsam eingeführt, ja man könnte fast sagen, untergehakt und mitgenommen wird der Betrachter in diese Welt im Bild (Nr. 204, S. 11) von einer blau gekleideten Gestalt, die wie der Vorbote des Schlafes wirkt, ähnlich einem Sandmann, der seit Generationen Begleiter des Träumers ist. Allerdings verstreut er keinen Sand für süße Träume, sondern hat sich den Schlafenden gleich unter den Arm geklemmt. In der Hand hält er wie ein Licht einen nicht mehr ganz prallen Luftballon, der an ein gelbes Organ erinnert, aus dessen Adergeäst sich ein Farbstrom nach unten ergießt. Eingebettet ist der leuchtend rot und schwarz konturierte Körper in eine malerisch surreale Bildwelt, die keine Räumlichkeit entwickelt und in der sich angedeutete Köpfe und amorphe, expressiv farbige, abstrakte Formen tummeln.

Das Neben- und Miteinander unterschiedlichster Figurationen und Stilmittel, die sich hier zu einem komplexen Bildgefüge verdichten, befördern dessen illusionären Charakter. Die Farbe am unteren Bildrand in Grau- und Rosatönen pastos, fließend aufgetragen, konzentriert sich nach oben hin zu einem dunklen, die hellen Körper plastisch herausarbeitenden Hintergrund. Der Komposition ist eine bewegte Dynamik eingeschrieben, die das gesamte Spektrum des Malerischen ausschöpft. Das gelbe sich durch leuchtende Farbigkeit in den Vordergrund spielende Organ wirkt wie das Leben spendende, pulsierende Herz der Peinture, dessen zum Bildrand hin auslaufender Farbstrom Figuration und Abstraktion des Dargestellten überlagernd eint. Es ist eine Szene, die sich nicht im Narrativen erschöpft, sondern geradezu als Sinnbild des Malerischen fungiert. Das Oszillieren zwischen Abstraktion und Figuration und der entschiedene Einsatz unterschiedlichster Stilmittel korrespondiert hier unmittelbar mit der phantastisch bizarren Welt des Traums.

Im Bild (Nr. 39, S. 45) inszeniert die Künstlerin Farbe als elementar kreative Kraft. Dunkle, rote Schwaden schieben sich in den Bildraum, verzweigen sich, werden heller. Aus abstrakten Strukturen bilden sich Figurationen, an zentraler Stelle der Körper einer Nackten. Fabelwesen und Pflanzen erscheinen gleichsam geboren aus Farbe. Die Leuchtkraft der Komposition wird verstärkt durch den komplementären Kontrast des einfassenden Blaugrün, das den Eindruck einer geistigen Vision evoziert. Das rechts unten am Bildrand erscheinende Gesicht legt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine träumerische Fantasie handelt. Das Fließenlassen der Gedanken, das Abtauchen und sich Verlieren in fast vergessenen Eindrücken, die dann aus der Tiefe geborgen, differenziert und imaginativ illustriert vielschichtige Innensichten ergeben, ist ein Thema, dem die Künstlerin große Relevanz beimisst, und das sie immer wieder variiert. Figurativ umgesetzt hat sie diesen Vorgang des Abtauchens im Werk (Nr. 114, S. 31), das zwei elfenhafte Wesen in einem der Erdsphäre entrückten Raum aus leuchtenden Farbfeldern zeigt. Mit fast geschlossenen Augen schweben sie durch dieses außerirdische Universum, wie Erscheinungen, deren geistige Reise poetisch bildhafte Wirklichkeit geworden ist.

In Katharina Schellenbergers Arbeiten entwickelt sich der bildnerische Prozess häufig analog zum gedanklichen. Darüber hinaus arbeitet sie immer wieder mit Bildcollagen. Dabei greift sie häufig auf Abbildungen früherer Werke zurück, was ihr die Möglichkeit gibt, das eigene Werk zu reflektieren und neu zu kontextualisieren. So setzt sie im Werk (Nr. 195, S. 28) die beschnittene Abbildung einer früheren Arbeit, den Kopf einer jungen Frau mit geschlossenen Augen, ins Zentrum des Bildes. Darunter das Porträt eines Mannes mit greisem Haupt, Bart und Turban, flankiert von zwei männlichen Gestalten. Der linke Mann mit Hut und Zylinder, ganz in gelb und weiss gehalten, wirkt wie eine lichte Erscheinung, die gerade dabei ist, sich aus einer anderen Epoche kommend neu zu materialisieren, während sein Gegenüber, ein rotfleischiges Wesen, sich noch aus dem Embryonalstadium heraus zu entwickeln scheint. Es sind die Verkörperungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich hier gegenüberstehen inmitten eines kosmischen Strudels aus Blau- und Orangetönen und den allzeit fortschreitenden Kreislauf des Lebens versinnbildlichen.

Katharina Schellenberger variiert das Thema des ewig Menschlichen voll großer Freude am experimentellen Umgang mit Farbe und entwickelt im Zusammenspiel unterschiedlichster malerischer und zeichnerischer Elemente eine bemerkenswerte stilistische Vielfalt. In ihren expressiven, farbgewaltigen Bildräumen entwirft sie Szenarien, die gleichermaßen groteske und poetische, mitunter auch komisch ironische Visionen des Unbewussten heraufbeschwören. Es sind vielschichtige Bildwelten, die sich in ihrer Komplexität dem Betrachter oft erst auf den zweiten und dritten Blick erschließen und die ihn einladen, länger davor zu verweilen. Diese Innenbilder bieten die Möglichkeit zur kontemplativen Versenkung und begünstigen, falls man sich darauf einlässt, das Abtauchen in den TiefenGrund des eigenen Unbewussten.

  

 

 

Liedblätter

 

Ausgangspunkt für diese Serie war ein in der Kindheit in den Besitz von Katharina Schellenberger gelangtes Kompendium von Notenblättern protestantischer Kirchenlieder. Lange Zeit unbeachtet entschloss sie sich, dieses vor dem Entsorgen noch einmal durchzublättern und war überrascht von der Wirkungsmacht der Lieder, die regelmäßig in den Kirchen gesungen wurden, und deren Inhalt darauf ausgerichtet war, den Menschen als arme Kreatur, seinen vorbehaltlosen Glauben und das Ephemere seiner Existenz ins Bewusstsein zu rücken. Die Künstlerin entschloss sich, die Notenblätter partiell zu übermalen, allerdings ohne sie dabei textgetreu zu illustrieren, sondern die Liedinhalte in assoziativ imaginierten Bildern kritisch zu reflektieren.

Das Blatt Es ist ein Schnitter (S. 54), dessen Text einem Gedicht von Clemens Brentano entstammt, hebt die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und die christliche Hoffnung auf Auferstehung hervor. Es zeigt einen grob, nur aus wenigen dunkelroten Farbflächen und schwarzen Pinselstrichen skizzierten Kopf mit leeren Augen als Sinnbild des Menschen, über dessen Haupt sich der Schnitter gebeugt hat. Dass er ihm hier bereits einen Teil seines Schädels entfernt hat, markiert eher einen partiellen Bewusstseinsverlust durch indoktrinierte Ideologien als den realen Tod. Oder wird in den Schädel etwas hineingetan? Sand etwa vom Sandmann?

Im Liedblatt Weiss ich den Weg auch nicht (S. 53 oben), in dem der Gläubige seinen weiteren Weg Gott anempfiehlt, hält eine übergroße Gestalt ein kleines Menschlein wie eine Marionette an der Leine und führt ihn vor. Es ist das gottergebene Sich-Fügen in die Obhut einer höheren Macht und der damit einhergehende Verlust der Selbstverantwortung für das eigene Tun, das hier gezeigt wird.

 

 

 

Köpfe – Verkopfungen

 

Die Serie Köpfe zeigt keine Portraits, bei denen eine real existierende Person abgebildet wird, sondern stellt eine Reduzierung dar auf den Wesenskern, eine bestimmte Stimmungslage oder einen seelischen Zustand. Auch die Verkopfungen sind nicht im Sinne eines Portraits angelegt. Gemalt sind sie mit Ölfarben in vielen hellen Grau- und Rosatönen auf Papier, das aus unterschiedlich großen Einzelblättern zusammengeleimt ist. Spuren der Verbindungslinien sind durch Klebeband zeichenhaft inkorporiert. Es sind Köpfe, deren Physiognomien mit wenigen, sparsam gesetzten Linien und Pinselstrichen angedeutet sind. Darüber türmen sich wie Haargebilde biomorphe Formen und knorpelige Verdickungen, die den Köpfen entwachsend ein Eigenleben entwickeln, das in neue körperhafte Figurationen mündet. Die Mienen wirken in sich gekehrt, abgeschieden; die Augen, ob geschlossen oder geöffnet, sind nicht auf den Betrachter gerichtet; sie scheinen verloren, ausdruckslos. Die deutlich sichtbaren Klebestreifen sind gleichermaßen Gerüst und Dekonstruktion. Es entsteht der Eindruck von Verletzungen, die im Sinne eines kurativen Eingriffs verpflastert wurden.

Die Porträts verdichten sich zu seelischen Zustandsbeschreibungen.

 

 

Catrin Morschek

Kunsthistorikerin M.A.

Katalog mit einer Auswahl von Werken von 2009 bis 2016 und den Serien „Liedblätter“ und „Verkopfungen“

Einführung: Catrin Morschek M.A.

66 Abbildungen, DIN A4, 2016

12,- € incl. Versand

ungeschminkt ehrlich

Katalogtext Einführung

Ungeschminkt ehrlich

Die junge Künstlerin Katharina Schellenberger schont niemanden: Nicht sich selbst, nicht den Betrachter ihrer Bilder und am allerwenigsten wohl ihre Sujets. Merkwürdig verstörend wirken diese nach fotografischen Vorlagen berühmter Frauen entstandenen Köpfe, bloß und schutzlos, zerbrechlich und verletzlich. Nicht die Wiedererkennbarkeit der einzelnen Person steht für Katharina Schellenberger im Vordergrund, sondern die Reduzierung auf ihren wahren, unverfälschten Ausdruck. Dafür scheint sie ihre Gegenüber mit kühlem Röntgenblick zu taxieren, alles Unwesentliche, Schmückende und Ablenkende fällt ab und hinter der Fassade scheint Unsicherheit und Ungewissheit auf. Sterblichkeit, die eigene wie die der anderen, wird sichtbar, sie bahnt sich ihren Weg in das Leben. Der schützenden Maske beraubt, bleibt den Gesichtern nur mehr die Authentizität des wahren Seins. Es ist die Konfrontation mit der nackten und unverstellten Realität, die den Betrachter zwingt, sich seinen eigenen Maskierungen und den dahinter sorgfältig verborgenen Ängsten und Unzulänglichkeiten zu stellen und diese zu hinterfragen.

Für die Serie von 440 Frauenporträts, die überwiegend im Jahr 2010 entstanden sind, hat Katharina Schellenberger mit einer neuen Technik experimentiert. Tusche wird in verschiedenen Verdünnungen auf dickes Aquarellpapier aufgetragen, teilweise äußerst akzentuiert mit wenig Aquarellfarbe ergänzt oder mit Acrylweiß übermalt. Seelische Abgründe werden festgehalten in dünnen Linien, verlaufenden Konturen und nicht übermalten Stellen im Papier. Diese Konzentration auf wenige künstlerische Mittel führt zu einer Intensivierung des Ausdrucks und damit des Bilderlebnisses. Es ist der nüchterne, dabei aber äußerst konzentrierte Blick, mit dem es der Künstlerin gelingt, die Person auf ihren wahren Kern herunterzubrechen, ohne sie bloßzustellen. Freilegen ohne zu zerstören ist eine Kunst für sich, die nicht jeder beherrscht, doch Katharina Schellenberger gelingt die Gratwanderung zwischen Entblößen und Lächerlichmachen scheinbar mühelos.

Die Ästhetik ihrer Porträts erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick, doch ihrem sicheren Gespür und der bildnerischen Umsetzung der von ihr ausgemachten Seelenlandschaften wohnt eine eigene Schönheit inne. Es ist die ruhige Gewissheit um die Geheimnisse des Lebens, seine freudigen wie leidvollen Perioden, vor allem jedoch um seine Endgültigkeit und Begrenztheit, die aus den Bildern Katharina Schellenbergers spricht und ihnen so Wahrheit verleiht. Wahrheit ist ohne schonungslose Offenheit nicht zu haben, es erfordert Mut, sich ihr zu stellen, vielleicht noch mehr Mut, Wahrheit darzustellen. Demaskierung ist ein schmerzhafter Prozess, doch liegt darin immer auch die Chance der Offenbarung. Katharina Schellenberger bannt sie auf Papier.

 

 

Birgit Kremer

Kunsthistorikerin M.A.

Katalog zur Serie „Köpfe in Tusche“

Einführung: Birgit Kremer M.A.

20 Abbildungen, DIN A5, 2010

4,- € incl. Versand

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